Besorgte Eltern finden ob der Bauchschmerzen, der Koliken, des vielen Spuckens oder des Durchfalls ihres Babys schon in den Drogerieregalen neben normaler Säuglingsnahrung einige Spezialprodukte. Der Umweg über den Arzt ist scheinbar überflüssig.
ÖKO-TEST hat zwölf Säuglingsnahrungen eingekauft, die Hersteller um die Vorlage von Studien gebeten und diese von einem Kinderarzt und Ernährungsexperten begutachten lassen. Zudem haben wir die Deklaration prüfen lassen und Labore mit der Analyse problematischer Inhaltsstoffe beauftragt. Elf Produkte werden als diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke angeboten, eines nennt sich "Diätetisches Lebensmittel für Säuglinge auf Ziegenmilchbasis". Alle Produkte sind laut Deklaration für Säuglinge von Geburt an oder ab der ersten Woche geeignet.
So schneidet die Säuglingsnahrung bei ÖKO-TEST ab
Vernichtend: Kein Produkt erreicht auch nur ein "ausreichendes" Gesamturteil. Die Produkte erfüllen allesamt nicht die Anforderungen an eine Säuglingsnahrung beziehungsweise an ein diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Für etliche Spezialnahrungen liegen entweder keine belastbaren klinischen Daten vor oder der Nutzen ist zweifelhaft.
Auch eine erhöhte Spuckneigung ist zunächst einmal nicht behandlungsbedürftig. Daher ist der Einsatz bei gesunden Säuglingen nicht sinnvoll. Lediglich unter ärztlicher Aufsicht bei Säuglingen mit schwerer Refluxkrankheit oder bei drohender Unterernährung können sie eingesetzt werden, damit weniger Nahrung durch Erbrechen verloren geht. Zudem ist die Wirkung angedickter ("AR-") Nahrungen von fragwürdiger klinischer Bedeutung.
Heilnahrung ist bei Durchfall fehl am Platz
Die beiden Heilnahrungen enthalten nur wenig oder keine Lactose. Ein Erzeugnis ist zudem mit Ballaststoffen (Prebiotika und Bananenpulver) angereichert. Beide sollen den Stuhl rasch normalisieren. Nur: Bei Durchfall geht es primär darum, den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, zum Beispiel mit Glucose-Elektrolyt-Lösungen, um dann mit der normalen Kost fortzufahren.
Nahrungen auf Basis von Sojaprotein bei Kuhmilchunverträglichkeit hält die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) zwar für geeignet, allerdings nach Rücksprache mit dem Arzt. Damit kommen Sojanahrungen infrage bei der seltenen angeborenen Lactoseintoleranz, bei veganer oder koscherer Lebensweise oder wenn eine Ernährung mit Formelnahrungen zur Behandlung von Kuhmilchallergie nicht praktikabel ist. Für die Ernährung gesunder, gestillter Säuglinge sind Sojaprodukte jedoch nur zweite Wahl. Zudem rät die DGKJ, Sojanahrungen nicht in den ersten sechs Lebensmonaten zur Therapie von Nahrungsmittelallergien einzusetzen. Alle drei Produkte auf Sojabasis enthalten gentechnisch veränderte Bestandteile in Spurengehalten. Die Toleranzgrenze von 0,9 Prozent Gen-Soja wurde nicht überschritten.
Wirkung von Spezialnahrungen nicht belegt
Gegen Verstopfung und Blähungen beziehungsweise gegen lactosebedingte Dreimonatskoliken, Blähungen und Durchfallerkrankungen werden zwei Spezialnahrungen angeboten. Beide enthalten partiell gespaltene Eiweiße aus Kuhmilch und weisen einen verringerten Lactosegehalt auf. Jedoch ist bislang der Nutzen für das Auftreten von Blähungen durch eine verringerte Zufuhr von Milchzucker nicht belegt. Beide Produkte werden nach Auffassung unseres Gutachters für milde Magen-Darm-Beschwerden ausgelobt, was nicht der Absicht des Gesetzgebers bei der Definition eines Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke entspricht.
Nach derzeit geltendem europäischem Recht erfüllt das Produkt auf Ziegenmilchbasis nicht die Anforderungen an eine Säuglingsnahrung. Denn sie entspricht von ihrer Aufmachung her einer Säuglingsanfangsnahrung, für die als Proteinquellen nur Kuhmilchproteine, Proteinhydrolysate und Sojaproteinisolate zugelassen sind, nicht aber Ziegenmilch.
Bislang fehlt der Nachweis, dass Ziegenmilch, insbesondere als alleinige Eiweißquelle, für die Ernährung von Säuglingen sicher und geeignet ist. Zudem gibt es keine belastbare kontrollierte Studie, die einen Nutzen einer Ziegenmilchnahrung für die Vorbeugung oder aber die Therapie von Kuhmilcheiweißallergie oder -unverträglichkeit belegen würde.
TDI für 3-MCPD wird in allen Fällen überschritten
Ein großes Problem ist der in den Produkten nachgewiesene Fettschadstoff 3-MCPD-Fettsäureester. Daraus freigesetztes 3-MCPD hat in Tierversuchen die Nierenkanälchen verändert. Die tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI) für 3-MCPD überschreiten alle analysierten Werte, zwei Produkte sogar um mehr als das Zehnfache.
Nach Messungen des Labors an zwei verschiedenen Dosen enthält auch dieses Produkt 3-MCPD-Ester. Der Wert ist "erhöht", das "Testergebnis Inhaltsstoffe" damit "befriedigend". Dazu schrieb uns die Anwaltskanzlei des Anbieters: "Dieses Prüfergebnis entspricht nicht der Richtigkeit." Zum Beweis dieser Behauptung hatte der Anbieter uns ein über zwei Jahre altes Prüfprotokoll geschickt, welches unsere aktuelle Untersuchung nicht widerlegen kann. Sehr wahrscheinlich war die untersuchte Charge eine völlig andere. Aber das konnten wir nicht feststellen, denn der Prüfbericht enthielt nicht einmal eine Chargennummer.
Von uns darauf aufmerksam gemacht, ließ der Anbieter eilig zwei weitere Analysen in Auftrag geben. Beide ergaben, dass das Produkt allenfalls gering belastet ist und "weniger als 0,15 mg/kg 3-MCPG-Ester und 3-MCPG-bildende Substanzen (Glycidol) enthält", so die Anwältin. Abgesehen davon, dass es nicht um 3-MCPG-Ester geht, sondern um 3-MCPD-Ester, bezog sich eine Untersuchung wiederum nicht auf die von uns getestete Charge. Die zweite Probe der angeblich richtigen Charge war nicht in der Originaldose angeliefert worden, sondern in einem "zugeschweißten Beutel".
Die ÖKO-TEST-Anwälte haben den gegnerischen Anwälten daher mitgeteilt, dass die Untersuchungsergebnisse nicht geeignet sind, unsere Tests zu widerlegen. Von den angekündigten rechtlichen Schritten haben wir trotzdem bislang noch nichts gehört.
Ein Anbieter hebt hervor, seine Produkte seien "ohne Konservierungs- und Farbstoffe sowie Aromen (lt. Gesetz)". Das ist zwar rechtlich zulässig, aber eine unnötige Werbung mit Selbstverständlichkeiten. Bei einer anderen Säuglingsnahrung hapert's an der Berechnung des Niacingehaltes in der fertigen Milch, der Wert steht in keinem logischen Zusammenhang zum angegebenen Niacingehalt im Pulver.
So reagierten die Hersteller
Eine Firma schrieb uns, man befinde sich momentan "kurz vor der endgültigen EU-Zulassung des Produktes, die auf Grund ausnahmslos positiver Studien im nächsten Jahr erfolgen wird. Die Studienergebnisse dürfen wir Ihnen aber aus rechtlichen Gründen erst Mitte nächsten Jahres zukommen lassen." Ein entsprechender Antrag liegt der EFSA tatsächlich vor, bis zum 31. März 2012 soll darüber entschieden sein (Stand: Redaktionsschluss 09.12.2011).
Schließt sich die Europäische Kommission der Einschätzung des Herstellers an, könnte eine Zulassung von Säuglingsnahrungen auf Ziegenmilchbasis für gesunde Säuglinge möglich sein. Damit wäre dann auch bestätigt, dass Ziegenmilch eine sichere und effektive Nahrungsquelle für nicht gestillte, gesunde Säuglinge ist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dies aber nicht der Fall. Unsere Experten bezweifeln sogar, dass das Produkt verkehrsfähig ist.
Konkrete Angaben hinsichtlich der Eignung als Ernährung bei Stoffwechselstörungen wie zum Beispiel einer Kuhmilchproteinallergie erfolgen nicht. Das von ÖKO-TEST mit der Deklarationsprüfung beauftragte Labor würde das Produkt nach der Definition in § 1 der Diät-Verordnung als Säuglingsanfangsnahrung einordnen. Für Säuglingsanfangsnahrungen dürfen als Proteinquellen aber keine anderen als Kuhmilchproteine, Proteinhydrolysate und Sojaproteinisolate verwendet werden. Ziegenmilch ist somit als Proteinquelle für Säuglingsanfangsnahrung nicht zugelassen.
Diesen Test haben wir zuletzt im Ratgeber Kleinkinder für 2011 veröffentlicht. Aktualisierung der Testergebnisse/Angaben für das Jahrbuch Kleinkinder für 2012 sofern die Anbieter Produktänderungen mitgeteilt haben oder sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die Bewertung von Mängeln geändert oder wir neue/zusätzliche Untersuchungen durchgeführt haben.
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