Das Thema Aufräumen ist oft ein riesiges Streitthema zwischen Eltern und Kindern. Das muss aber nicht unbedingt der Fall sein: Der Psychologe und psychologische Psychotherapeut Professor Markus Schaer erklärt, wie man Streit vermeidet, wann ein Kind noch nicht bereit ist aufzuräumen und warum Unordnung ein Luxusproblem ist.
"Ordnung ist meist eher ein Bedürfnis der Eltern"
ÖKO-TEST: Professor Schaer, warum ist Ordnung wichtig?
Markus Schaer: Ordnung heißt zu wissen, wo man was findet. Das schafft Sicherheit und gibt Struktur, mit der es uns leichter fällt, mit unserer Umwelt umzugehen. Ordnung ist damit ein Ausdruck innerer und äußerer Kontrolle. Dieses Kontrollgefühl ist wichtig für unsere psychische Gesundheit. Aufräumen kann uns innere Ruhe schenken.
Warum gibt es so viel Diskussion um Ordnung und Aufräumen?
Schaer: Das Thema Ordnung oder Unordnung ist ein Luxusproblem. Es ist ein Symptom unseres Überflusses. Das ist mir bei meiner Forschung zum Thema Glück in Nepal bewusst geworden. Dort haben Kinder nur wenig Spielzeug. Aber es gibt eine reiche Natur. Aufräumen ist dort kein Thema.
Das Thema Ordnung ist oft Streitpunkt in Familien. Wie viel Ordnung muss sein?
Schaer: Für wen? Die Kinder oder die Großen? Für Babys und Kleinkinder ist das Ordnungsbedürfnis nicht so wichtig. Ordnung ist meist eher ein Bedürfnis der Eltern. Sie sollten auf sich selbst achten und dabei die Kinder nicht überfordern. Wir können uns in Wohnungen mit vielen Objekten ebenso wohlfühlen wie in eher clean gehaltenen.

Wann Eltern noch nicht auf Aufräumen pochen sollten
Wann lernen Kinder zwischen Ordnung und Unordnung zu unterscheiden?
Schaer: Es gibt eine Studie von Karen Wynn und George Newman von 2010. Sie haben in einem Versuch gezeigt, dass Babys Ordnung und Unordnung unterscheiden können und bereits wissen, dass Menschen manchmal aufräumen. Dazu wurden ihnen Videos gezeigt, in denen entweder ein Mensch oder ein Ball aufräumt. Räumt ein Mensch auf, wundern sich Babys nicht darüber. Räumt ein Ball auf, wundern sie sich und schauen länger hin.
Dieses Verhalten ist bei Kindern ab dem Alter von ungefähr zwölf Monaten zu beobachten. Da eignen sich Kinder Weltwissen an. Es zeigt auch, dass Kinder durch Zuschauen etwas über das Aufräumen lernen.
In welchem Alter der Kinder sollten Eltern nicht auf Ordnung pochen?
Schaer: Wenn Kinder noch mit Gegenständen experimentieren – zum Beispiel mit einem Telefon nicht telefonieren, sondern reinbeißen, damit klopfen oder werfen, um zu sehen, was passiert. Danach gibt es die Phase, in der Kinder gerne Schubladen ausräumen. Das Ein- und Ausräumen ist für ihre Entwicklung wichtig. Dabei entdecken sie, dass Dinge existieren, auch wenn wir sie nicht sehen. In dieser Zeit brauchen die Großen viel Geduld und Gelassenheit.
Aufräumen sollte keine Erziehungsmaßnahme sein
Hört das irgendwann von allein auf?
Schaer: Ja, irgendwann hört das Thema auf. Dann geht es darum, etwas Sinnhaftes zu tun, mitzuhelfen. Wenn Eltern beim Aufräumen entspannt sind, dann wollen Kinder gerne helfen. Wichtig ist, die Kinder mitmachen zu lassen und ihnen ein Stück Autonomie zu geben.
Aufräumen sollte nie eine Erziehungsmaßnahme sein. Das führt zu negativen Emotionen und letztlich zu einem Dauerkonflikt. Lieber durch Spaß am gemeinsamen Aufräumen positive Emotionen wecken. Überhaupt ist Aufräumen etwas, das in der Kindheit nur als gemeinsame Tätigkeit klappt.
Wann ist Ordnung etwas Gutes?
Schaer: Das Gute an der Ordnung sind die Übersicht und Ruhe. Das Gute am Chaos ist die Kreativität. Wenn das Chaos zu groß wird, sodass die Kinder nicht mehr experimentieren können oder Verletzungsgefahr besteht, braucht es Ordnung. Gut ist ein Wechsel zwischen Ordnung und Unordnung – wie der Wechsel zwischen Sommer und Winter, Tag und Nacht. Die Polarität zwischen Anregung und Ruhe – der Wechsel – ist für die Entwicklung wichtig.
In der Grundschule oder der Vorschule kann es für Kinder schön sein, wenn sie immer wieder auf Ordnung treffen. In einer Lernwerkstatt beispielsweise ist es erlaubt, dass die Kinder etwas durcheinanderbringen, experimentieren. Es ist zu Beginn aber gut, wenn alles schön aufbereitet und das gesamte Angebot erkennbar ist.
Wie lassen sich Konflikte ums Aufräumen vermeiden?
Schaer: Wichtig ist es, Konflikten vorzubeugen. Eltern sollten rechtzeitig ausdrücken, was sie möchten. Ein Konflikt entsteht oft, weil das zu lange vor sich hergeschoben wird. Eltern sollten auch Vorbild sein. Und sie sollten konkret sagen, was das Kind tun soll – ganz ohne Vorwurf. Also: "Bitte pack die Bauklötze in die Schachtel, bring die Socken ins Bad." Wichtig ist auch zu sagen, warum einem das wichtig ist.
Vereinbarungen helfen dabei, Grenzen zu setzen
Wer bestimmt, wie viel Chaos erlaubt ist?
Schaer: Darüber können Eltern mit ihren Kindern Vereinbarungen treffen. Ein Beispiel: Die große Ritterburg ist Ausdruck der Fantasie. Sie ist in sich eine Ordnung. Wichtig ist, dass die Kinder selbst bestimmen dürfen, wann ihre Geschichte zu Ende gespielt ist. Die Autonomie darüber ist Teil ihrer Entwicklung.
Eine Regel, dass um 19 Uhr aufgeräumt werden muss, steht dem entgegen. Es muss auch mal was stehen bleiben. Eltern können ihre Kinder fragen, wie weit die Geschichte ist, und gemeinsam entscheiden, was bleiben darf und was wegmuss. Darüber treffen sie eine Vereinbarung.
Ab wann kann ich mit meinem Kind eine Vereinbarung darüber treffen, wie viel Platz jeder bekommt?
Schaer: Das geht ab dem Kindergartenalter.
Was muss ich dabei beachten?
Schaer: Vereinbarungen sollten Eltern mit Kindern in guten Momenten treffen, wenn kein Streit oder Konflikt besteht. Es geht darum, Grenzen zu setzen und für sich zu sorgen. Statt zu verbieten, ist es besser, eine Alternative zu erlauben. Wenn die Ritterburg nicht im Wohnzimmer stehen soll, dann vielleicht im Kinderzimmer. Die Ansage ist dann: "Mir ist hier Ordnung wichtig. In deinem Zimmer darfst du spielen."
Muss ich oder sollte ich mein Kind loben, wenn es aufgeräumt hat?
Schaer: Hilfreich ist oft, sich auch über eine kleine Ordnung zu freuen, wenn das Kind etwa nur eine Ecke aufgeräumt hat. Wichtig ist die Freude über die Anstrengung, die Mühe, die sich das Kind gemacht hat. Es kommt nicht darauf an, was wir schaffen, sondern dass wir etwas versuchen und dass wir uns Mühe geben. Wir sollten Versuche und Anstrengungen würdigen und auch beim Lob konkret sein.
Und wenn Eltern selbst nicht gern aufräumen?
Schaer: Das größte Geschenk von Kindern an ihre Eltern ist, dass sie uns dazu bringen, unsere Lebensthemen zu überdenken. Dann können wir uns mit den Kindern weiterentwickeln. Das ist auch eine Chance für Eltern.
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