Kinder in der Pandemie: "Familien stehen unter einem extrem hohen Druck"

Interview mit Intensivpädagoge Menno Baumann

Magazin Februar 2022: Vitamine | Autor: Meike Rix | Kategorie: Kinder und Familie | 15.02.2022

Kinder brauchen in der Corona-Pandemie mehr schöne Momente und weniger Lerndruck.
Foto: Viacheslav Lopatin/Shutterstock

Der Intensivpädagoge Menno Baumann untersucht, worunter Kinder und Jugendliche in der Pandemie wirklich leiden, und was sie stark macht. Im Interview erklärt er, wie Eltern ihre Kinder jetzt am besten unterstützen können.

ÖKO-TEST: Die Pandemie dauert jetzt schon fast zwei Jahre. Sie forschen zu den Folgen für Kinder und betreuen Familien in der Kinder- und Jugendhilfe. Wie sehen Sie die Lage aktuell?

Menno Baumann: Je länger es dauert, desto schwieriger wird es. Im Moment, wenn ich in die Studienlage blicke und auch auf das, was ich in meiner praktischen Arbeit als Pädagoge mitbekomme, muss ich sagen, Familien stehen unter einem extrem hohen Druck.

Zwar gibt es Kinder und Jugendliche, die aus dieser Pandemie durchaus gute Seiten gezogen haben und die relativ unbeschadet da rauskommen. Wir wissen bei den kleineren Kindern sogar, dass viele von ihnen es genossen haben, dass die Eltern mehr zu Hause sind und der Alltag ein wenig entschleunigt wurde.

Wir wissen aber auch, dass eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen doch erhebliche Probleme entwickelt haben. So haben zum Beispiel psychische Störungen, die mit dem Thema Kontrolle zu tun haben, wie Zwangshandlungen und Essstörungen zugenommen.

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Kinder leiden unter fehlender Tagesstruktur

Was belastet die Kinder besonders?

Baumann: Es gibt die Folgen der Krankheit selbst. Bis zu zehn Prozent der an Covid erkrankten Eltern sind hinterher nicht arbeitsfähig, das betrifft auch direkt deren Kinder. Bei den Sterbefällen von Eltern sind wir im Vergleich mit Schweden oder den USA zum Glück in Deutschland bisher mit einem blauen Auge davongekommen, aber es ist natürlich eine Katastrophe, wenn ein Kind einen Elternteil verliert.

Davon abgesehen zeigen Studien drei Hauptrisikofaktoren: Der erste sind schlicht fehlende Tagesstrukturen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob die Eltern einen festen Ablauf mit gemeinsamen Mahlzeiten und Ritualen aufgebaut haben, und ob es zum Beispiel morgens und mittags eine Videokonferenz von der Schule gibt. Wenn Schule und Familie Struktur vorgegeben haben, sind die Kinder in der Regel gut durch die Zeit gekommen.

Zweitens sind viele Tausend Kinder in Armut oder in Angst vor Armut geraten, unter anderem, weil Gastronomie und Einzelhandel unter Druck geraten sind oder Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen ihre Jobs verloren haben. Und was sich als dritter großer psychischer Risikofaktor gezeigt hat, ist ein enormer Vertrauensverlust in die Erwachsenengeneration.

Videokonferenzen zu bestimmten Uhrzeiten geben Kindern eine feste Struktur.
Videokonferenzen zu bestimmten Uhrzeiten geben Kindern eine feste Struktur. (Foto: myboys.me/shutterstock.com)

Warum haben die Kinder ihr Vertrauen in die Erwachsenen verloren?

Baumann: Wir wissen aus Studien und ich auch aus meiner Arbeit mit Kinder und Jugendlichen, dass sie genau wahrnehmen und wirklich enttäuscht und ängstlich darüber sind, wie mit zweierlei Maß gemessen wird, was die Interessen von Kindern und Erwachsenen angeht.

Ich persönlich kenne zum Beispiel Jugendliche, die haben einen Ordnungsgeldbescheid gekriegt über 165 Euro mit 16 Jahren, weil sie zu dritt auf einem Spielplatz angetroffen wurden – und am selben Wochenende fand die erste große Querdenker-Demo statt. Oder die Kultusministerkonferenz tagt online und beschließt dabei, dass 30 Kinder zusammen in einen Klassenraum ohne Luftfilter müssen. Im letzten November waren alle Sankt-Martins-Umzüge abgesagt, aber Karneval wurde gefeiert.

Mehr schöne Zeit und Spaß in der Familie haben

Solchen Widersprüchen stehen Eltern selbst oft frustriert und hilflos gegenüber. Was können wir denn tun, um unsere Kinder jetzt zu unterstützen, so dass sie Kraft schöpfen?

Baumann: Eltern würde ich ermutigen wollen und ihnen sagen, sehen Sie zu, je unsicherer die Situation da draußen ist, umso mehr schöne Zeit und auch Spaß in der Familie zu haben. Nicht Nachhilfe organisieren, sondern die Kinder eher aktiv auffordern, "jetzt leg mal die Hausaufgaben zur Seite, und wir spielen was zusammen".

Jetzt ist alles wichtig, was Spaß macht. Jetzt sind Hobbys dran, Kreativität, an den Stärken der Kinder orientierte Förderung. In den Familien wie auch in den Schulen und Kindergärten. Es ist damit zu rechnen, dass Familien wieder mehr in Isolationserfahrungen geraten, sei es durch Kontaktbeschränkungen, oder weil Einrichtungen wegen krankheitsbedingtem Personalmangel schließen oder Kinder reihenweise in Quarantäne gehen.

Manche Familien waren jetzt schon viermal in Quarantäne! Und wir wissen aus Studien, dass Quarantäne für Kinder sogar noch deutlich belastender ist als ein gut strukturierter Lockdown, der die Gesamtbevölkerung betrifft. Und selbst im Lockdown durften wir in Deutschland zu jeder Zeit raus – in Quarantäne sind Sie auf die eigene Wohnung fixiert.

Wirklich? Dabei waren die Lockdowns doch deutlich länger als eine übliche Quarantänezeit.

Baumann: Psychische Folgeschäden bis hin zu Traumasymptomen durch Quarantäne sind trotzdem deutlich häufiger. Wenn ich in Quarantäne bin, dann war ich mit dem Virus irgendwie in Kontakt. Das ist etwas anderes als eine abstrakte Bedrohung, die ich eigentlich nur aus den Medien kenne. Die Quarantäne trifft mich außerdem von einem Moment auf den anderen und reißt mich plötzlich aus allem raus.

Im Lockdown hatten größere Kinder und Jugendliche noch die gegenseitige Unterstützung über elektronische Medien, das entfällt, wenn ich alleine in Quarantäne bin, während meine Freunde sich weiter sehen können.

Wovon hängt es eigentlich bei kleinen Kindern ab, wie gut sie durch die Krise kommen? Ein ein- oder zweijähriges Kind vermisst noch nicht primär seine Freunde. Es ist bindungsorientiert auf die Erwachsenen. Das einzige, was Eltern von ganz kleinen Kindern tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass sie selbst die Situation einigermaßen entspannt auf die Reihe kriegen. Dafür spielen die Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung und die finanzielle Situation eine riesige Rolle.

Ganz wichtig: Es ist nach zwei Jahren Pandemie echt keine Schwäche, wenn einem das Ganze zu viel wird und man Unterstützung braucht. Erziehungsberatungsstellen, Kinderschutzbund und Kinderjugendschutz haben vielerorts ihr Angebot stark ausgebaut, und wenn es für einen entlastenden Anruf ist, wo man mal mit einem Menschen besprechen kann, dass einem gerade die Decke auf den Kopf fällt.

Kreative Tätigkeiten und Spiele bringen Abwechslung in den Alltag.
Kreative Tätigkeiten und Spiele bringen Abwechslung in den Alltag. (Foto: NDAB Creativity/Shutterstock)

Keine zu große Panik vor Corona verbreiten

Und was können Eltern für größere Kinder tun, falls Kita, Schule und Verein wieder als Treffpunkt wegfallen?

Baumann: Bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter können Eltern einiges kompensieren, indem sie Kontaktmöglichkeiten schaffen. Das heißt, sich zum Beispiel mit ein oder zwei Familien zu verabreden, unsere Kinder haben untereinander direkten Kontakt, schränken aber sonst ihre Kontakte nach außen ein.

Für Teenager ist es am schwersten, weil für sie der Kontakt mit Gleichaltrigen in Gruppen so wichtig ist. Eigentlich wäre es als Gesellschaft sehr sinnvoll zu sagen, 13- bis 25-Jährige dürfen sich mit mehr Leuten treffen, dafür müssen alle anderen jetzt aber mal auf weniger runter. Weil die das wirklich am dringendsten brauchen. Da möchte ich auch die Vereine ermutigen, dass sie Gelegenheiten für sichere Gruppenerfahrungen gerade für diese Altersgruppe offensiver ermöglichen und einfordern.

Eltern sollten unbedingt versuchen, selbst nicht in Panik zu geraten, weder im Sinne von "Hilfe, jetzt werden alle Kinder psychisch krank", noch sollten sie zu große Panik vor Corona als Krankheit verstreuen. Besser mit den Kindern offen und ehrlich darüber reden: Das ist eine beschissene Situation für uns alle, aber wir ziehen das zusammen durch.

Menno Baumann beschäftigt sich als Professor für Intensivpädagogik mit besonders herausfordernden Kindern, Jugendlichen und Familien sowie den für sie entwickelten Unterstützungssystemen.

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