Zecken-Expertin: "Wir können uns nirgendwo mehr richtig sicher sein"

Autor: Martin Oversohl von dpa | Kategorie: Gesundheit und Medikamente | 21.02.2024

Zecken-Expertin: "Wir können uns nirgendwo mehr richtig sicher sein"
Foto: Shutterstock/24K-Production

Zecken gehören zu den Gewinnern des Klimawandels – das gilt zumindest für die milderen Winter. Die blutsaugenden Parasiten sind auch früher im Jahr unterwegs. Experten warnen: Das Risiko bestimmter schwerer Infektionen besteht inzwischen bundesweit.

Die Winter werden im Zuge des Klimawandels milder, die Nächte sind seltener mal richtig frostig. Auch die vergangenen Monate waren ganz nach dem Geschmack von Zecken, die zunehmend die kalten Monate überstehen und vermehrt schon früh im Jahr unterwegs sind.

"Das bedeutet auch, dass die Gefahr von Infektionen deutlich früher droht und sehr hoch ist", sagte Ute Mackenstedt, Parasitologin an der Universität Hohenheim in Stuttgart, vor Beginn des 7. Süddeutschen Zeckenkongresses (26. bis 28.2.) in Stuttgart.

In Bayern gebe es aktuell bereits fünf erfasste Fälle von Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), in Baden-Württemberg einen. Das Risiko für eine Übertragung des Erregers durch Zecken steigt auch in den nördlichen Bundesländern deutlich, sind Experten überzeugt. 

Wie entwickeln sich die Zahlen?

FSME-Infektionen bei Menschen sind in Deutschland meldepflichtig. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Fälle in Deutschland zwar nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) von 627 Fällen im Jahr zuvor auf 527 Fälle gesunken. In Baden-Württemberg gingen die FSME-Fälle von 209 auf 143 zurück, in Bayern waren es nach 291 Fällen noch 265.

Experten warnen aber vor falschen Schlüssen: "Die Entwicklung ist trügerisch", sagte Rainer Oehme, Laborleiter des Landesgesundheitsamts im baden-württembergischen Gesundheitsministerium. "Der längerfristige Trend zeigt deutlich nach oben." 

Trotz der zuletzt gesunkenen Zahlen könne das laufende Jahr ein ausgeprägtes Zecken-Jahr werden, sagte Mackenstedt. Die Forschung identifiziere – vor allem in Baden-Württemberg – immer mehr sogenannte Naturherde, also räumlich begrenzte Gebiete mit Zecken, die den FSME-Erreger in sich tragen.

Gibt es eine Dunkelziffer?

Ja. Und sie ist Analysen zufolge sehr hoch. Viele FSME-Infektionen werden nicht als solche erkannt. Professor Gerhard Dobler, Leiter des Nationalen Konsiliarlabors FSME am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München, hat im badischen Ortenaukreis Blutproben von Blutspendenden untersucht. Mit einem neuen Testverfahren kann er zwischen Antikörpern aus einer Impfung und aus einer Infektion unterscheiden.

Das Ergebnis hat ihn überrascht: "Wenn man die nicht erkannten Infektionen einbezieht, ist das Risiko einer FSME-Infektion in dem Kreis um ein siebenfaches höher als bisher angenommen", sagte Dobler. "Das Infektionsgeschehen ist also sehr hoch, auch wenn eine Infektion nicht immer zur Erkrankung führt."

Welche Gebiete sind besonders betroffen?

Ein Infektionsrisiko besteht laut RKI vor allem in Bayern und Baden-Württemberg, dort werden etwa 85 Prozent der FSME-Fälle erfasst.

Oehme schließt aber keine Region mehr aus: "Auch im Norden und Osten Deutschlands steigen die Fallzahlen massiv, beispielsweise in Sachsen, Brandenburg, Niedersachsen oder Thüringen", erklärte er. Mackenstedt sprach von ganz Deutschland als "Endemie-Gebiet für FSME bei allen regionalen Unterschieden". Sie warnte: "Wir können uns nirgendwo mehr richtig sicher sein." Als Endemie-Gebiet man wird eine geografische Region bezeichnet, in der eine bestimmte Erkrankung auftritt.

Ist nur Deutschland betroffen?

Keineswegs. Eine ähnliche Entwicklung gibt es nach Angaben Doblers auch jenseits der Grenzen. "In Schweden hat sich die Zahl der FSME-Fälle verdoppelt auf einen Rekordwert. Dieser Trend zeigt sich auf der gesamten Nordhalbkugel", sagte der Münchner. "Wir können von einer schleichenden Pandemie der von Zecken übertragenden Erkrankungen sprechen." 

Wie entwickelt sich eine FSME-Infektion? 

FSME-Erreger werden durch Zeckenarten wie den Gemeinen Holzbock (Ixodes ricinus) und die Auwaldzecke (Dermacentor reticulatus) übertragen. In den Risikogebieten liegt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion nach derzeitigem Kenntnisstand bei einem Zeckenstich bei 1 zu 50 bis 1 zu 100. Die meisten Infektionen verlaufen ohne Symptome.

Nach etwa zehn Tagen können in einigen Fällen grippeähnliche Symptome auftreten. Bei rund einem Drittel dieser Patienten kommt es nach einer vorübergehenden Besserung zu einem erneuten Fieberanstieg und einer zweiten Krankheitsphase.

Bei leichten Verläufen klagen die Patienten vorwiegend über starke Kopfschmerzen. Bei schwereren Verläufen sind auch Gehirn und Rückenmark beteiligt. Zu den Symptomen gehören Koordinationsstörungen, Lähmungen, Sprach- und Sprechstörungen sowie Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle. Für rund ein Prozent dieser Patienten endet die Krankheit tödlich. Auch sind bleibende Spätfolgen möglich.

"Rund zehn Prozent von über 500 befragten Patientinnen und Patienten hatten auch nach über einem Jahr noch Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme mit der Balance oder beim Gehen", erklärte Dobler zu Ergebnissen einer Untersuchung des RKI.

Werden auch andere gefährliche Krankheiten übertragen?

Zecken übertragen in Deutschland neben FSME etwa auch die Lyme-Borreliose. Sie ist laut RKI wesentlich häufiger und kommt deutschlandweit vor. Mehrere Hunderttausend Fälle gibt es jährlich. Die meisten Infektionen verlaufen auch hier ohne Symptome. Im Erkrankungsfall ist erstes Symptom oft eine größer werdende Rötung um die Einstichstelle herum.

Borreliose ist mit einer zweiwöchigen Antibiotika-Gabe im frühen Stadium gut behandelbar. Der Erreger kann sich aber bei einer im Frühstadium nicht behandelten Infektion auf andere Gewebe und Organe ausbreiten und irreparable Langzeitschäden verursachen, etwa an Nervensystem, Gelenken, Herz oder Haut.

Spätformen können Monate oder sogar Jahre nach dem Zeckenstich auftreten.

Wo lauern Zecken?

Anders als häufig angenommen lassen sich die achtbeinigen Spinnentiere nicht von Bäumen fallen, auch springen können sie nicht. Sie sitzen vielmehr auf Grashalmen, im Gebüsch oder auf Totholz. Kommt ein Tier oder ein Mensch vorbei, werden sie bei Kontakt abgestreift und halten sich fest.

Die meisten Zecken warten laut RKI in einer Höhe von weniger als einem Meter, häufig sogar nur zwischen 10 und 50 Zentimeter über dem Boden.

Wandern im Zuge des Klimawandels neue Zeckenarten ein?

Ja. In Deutschland verbreitet sich zum Beispiel die ursprünglich hauptsächlich in den Trocken- und Halbtrockengebieten Afrikas, Asiens und Süd-Europas beheimatete Zeckenart Hyalomma rufipes. Die bis zu zwei Zentimeter große Riesenzecke profitiert von den milderen Wintern.

Anders als der Gemeine Holzbock braucht sie kaum Wasser, hat Augen und verfolgt aktiv potenzielle Opfer – wohl bis zu etwa 100 Meter weit. Vor allem aber kann diese Art schlimme Krankheiten übertragen: Krim-Kongo-Fieber und Zecken-Fleckfieber. In Deutschland spielen solche Infektionen bisher aber keine Rolle.

Weltweit sind über 900 Zeckenarten bekannt, in Deutschland sind inzwischen mehr als 15 Arten heimisch.

Wie kann man sich schützen?

Zum einen empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) für Menschen in Risikogebieten eine FSME-Impfung, die bei Menschen bis 60 Jahren alle fünf und bei älteren Menschen alle drei Jahre aufgefrischt werden muss. Die Experten haben allerdings eine "gewisse Impfmüdigkeit" ausgemacht.

Zum anderen hängt ein guter Schutz im eigenen Kleiderschrank: Schon das Tragen langärmeliger Hemden, langer Hosen und fester Schuhe kann Zecken abhalten. Es gibt zudem – ähnlich wie gegen Mücken – chemische Abwehrmittel, die zeitlich beschränkt wirken.

Nach einem Spaziergang in freier Natur, vor allem abseits breiter Wege, ist es zudem immer ratsam, sich selbst und vor allem Kinder nach Zecken abzusuchen, heißt es beim RKI. Die Parasiten setzen sich besonders gern in die weichere Haut von Arm- und Kniebeugen, unter Achseln, am Haaransatz oder im Genitalbereich.

Während die FSME verursachenden Viren im Stechapparat sitzen, befinden sich Borrelien im Magen – übertragen werden sie darum anders als die Viren erst nach einigen Stunden Saugzeit. Wird eine Zecke innerhalb der ersten zwölf Stunden nach dem Andocken entfernt, ist die Wahrscheinlichkeit dem RKI zufolge deutlich verringert, dass sie Borrelien auf den Menschen überträgt.

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